Erschienen in "Süddeutsche Zeitung", 15. Januar 1985:

Ein lyrisches, treffsicheres Talent: Zum Münchner Debüt des 16jährigen Pianisten Andreas Bach

Es standen wilde, pathetische, leidenschaftliche Stücke auf dem Programm des Andreas Bach: ein Chopin Scherzo, eine Liszt Ballade, Schumanns große C-Dur- Fantasie. Darum war ein extrovertierter, donnerkräftiger junger Virtuose zu erwarten, der Wettbewerbe gewonnen hat und nun in München seine feurigsten Schlachtrösser vorführt.
Doch was wir dann hörten, was an diesem bemerkenswerten Klavierabend geschah, war aufregender als vieles fabelhaft virile Virtuosentum. Da erklang zart, rein, vollkommen unabgenützt, wie zum erstenmal empfunden, Klaviermusik. Andreas Bach ist nämlich noch gar nicht das, was man sich so unter einem jungen Künstler vorstellt, also ein 22jähriger Könner, der schöne Erfolge hinter sich hat und gern auch mal im Rundfunk Symphonie Konzert. spielen möchte, sondern er ist ein 16jähriger Junge, seit kurzem hochaufgeschossen, Brillenträger, linkisch und lustig. Kein Wunderkind mehr, aber auch noch kein Mann. Sozusagen die zeitgenössische Variante dessen, was man früher Jüngling nannte...

Er eilte zum Klavier, brachte Brille und Hände in Positur, schien gar nicht sehr nervös und begann mit einer Honegger Komposition über B A C H. Alles kam höchst sinnvoll, sicher, zart, voller unaufälliger Entsprechungen. Das Publikum war verblüfft Dann folgten Beethovens späte Bagatellen Opus 126. Nun wandelte sich die Verblüffung in Anteilnahme. Denn der junge Mann auch er ein Schüler des vielbewunderten Hannoveraner Professors Karl Heinz Kämmerling erwies sich als bemerkenswert lyrisches Talent. Gewiß, er spielte die späten Beethoven-Bagatellen zu "direkt". Das sind ja, so könnte man sagen, nur "Zeichen", Kürzel, Chiffren; aber unser 16jähriger Freund verstand sie so, als ob sie auf eine verhaltene Weise immer genau das meinen, was sie sagen: also nicht vom späten Beethoven, sondern eher von frühen Schumann stammen.

Allein diese persönliche, vielleicht irrtumsbefangene, aber ganz und gar lautere Art, an Musik heranzugehen, hatte etwas sehr Überzeugendes. Da ahmt nicht jemand die Spätstil Philosophie großer Pianisten nach, sondern ein 16jähriger Künstler hört jene Innigkeiten aus großer abstrakter Musik heraus, die seinem Lebensgefühl entsprechen. Ohne Pose, ohne altkluges Gebaren.
Alles das hätte vielleicht ein Zuchtprodukt sein können. Doch wer sich an Chopins h-Moll-Scherzo macht, der muß, was immer ihm seine Lehrer geraten haben, auf dem Podium bar zahlen.
Und da erfuhren wir erstaunt, was Bach kann: die irrsinnig schweren Sprünge traf er genauer als, in ihren letzten Konzerten, Pollini und Horowitz! Und den Weihnachtslied Mittelteil des h-Moll-Scherzos tönte er wiederum nicht polnisch-versonnen-raffiniert, wie er es dem Rubinstein hätte nachmachen können, ab, sondern innig, naiv, germanisch empfindsam. Übrigens gelang die Sprungstelle in der C-Dur-Fantasie auch neiderregend gut, und mit den Oktav Passagen bei Liszt, wo Bach alles Süßliche mied, wurde er gleichfalls wohltrainiert fertig.

Daß bei Andreas Bach in 16 Takten mehr Musik passiert als bei Dimitri Sgouros, der zwar alle Stücke der Welt kann, nur leider interpretatorisch nicht sehr überzeugend, scheint mir außer Frage. Bachs Debüt hat in manchem an den jungen Bruno Leonard Gelber erinnert. Daß die ViriIität fehlt, also der sinnlich-temperamentvolle Zugriff; daß man oft den Eindruck einer gleichsam geschlechtslosen Jugend-Anmut hat: es ist wohl kein Fehler, eher eine Frage des Lebensalters. Trotzdem sollte Andreas Bach da nicht ausgerechnet Schumanns C-Dur-Fantasie wählen, deren feurig fantastischen Aspekten er überhaupt nicht gewachsen ist, deren Schwung knackig-naiv herauskam. Das Gelingen der Sprungstelle entschädigt nicht für zwei allzu harmlose Sätze, die wirklich so klangen, als habe die Clara sie komponiert und nicht der Robert.
Manchmal, vor allem bei Liszt, hat man das Gefühl, der Ton von Andreas Bach sei noch etwas zu modulationsarm silbrig. Er spielt zu wenig aus dem Körper. Hinter großen Akkorden steckt zu wenig Kraft; die Schule Arrau, das Vorbild Gelber sollte ihn in den nächsten Jahren lehren, mit wie spannungsvollem Nachdruck ins Klavier hineingefaßt werden kann.
Immerhin: eine beträchtliche Hoffnung. Gewiß nahmen sich viele Zuhörer im Herkulessaal vor, Bachs nächste Konzerte nicht zu versäumen.

JOACHIM KAISER